Allein(S)SEIN
Es war einmal ein kleines Bergdorf. Hoch oben und ganz einsam lag es in der Landschaft. Eingebettet in einem schützenden Kessel, der jedoch einen weiten Blick unmöglich machte. Und so waren sie geprägt, die Einwohner des Dorfes. Behütet von der Natur, abgeschnitten von der Zivilisation und vom Fortschritt. Die Zeit schien stillzustehen im Dorf des Vergessens- die Menschen dort hatten vergessen zu leben, zu träumen, zu wachsen. Eng war ihr Blick geworden, beschränkt ihr Horizont.
Auch voneinander konnten sie nicht mehr lernen als das, was sie alle im Dorf seit Jahrzehnten praktizierten: Enge, Unwohlsein, Streit, Stillstand.
Ihre Herzen waren gut, doch konnten sie ihre Liebe nicht weiten, da die Herzen eingesperrt waren und vielfach geschützt. Jeder im Dorf hatte dienen Panzer ums ein Herz- als Schutz vor Verletzung, als Schutz vor der eigenen Herzensliebe, der sie nicht gewachsen waren.
Im Dorf lebte ein Mädchen mit ihren Eltern und Geschwistern. Sie liebte ihre Familie sehr, doch trieb sie die Sehnsucht nach mehr. Sie wollte die Welt kennenlernen, die Welt umarmen, sich tragen lassen vom Pulsschlag ihrer wahren Mutter- Mutter Erde. Lange ließ sie nicht los, aus schlechtem Gewissen ihrer Familie gegenüber. Würde sie zur Verräterin, wenn sie ginge? Wer würde ihre Aufgabe im Dorf und in der Familie übernehmen? Sie war stets der Schutzengel der Familie gewesen. Viel Energie hatte sie verschenkt, um ihre Lieben zu nähren und zu tragen. Es war ihr eine Selbstverständlichkeit, lange Zeit war es ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie so viel von sich verschenkte. Sie tat es, wie ein Baby anfängt zu atmen, wenn es auf die Welt kommt. Und dann kam er, der Tag des Umbruchs. Das Mädchen packte ein paar Sachen in ihren Rucksack und ging los in Richtung „große Welt“. Sich selbst gab sie das Versprechen zurückzukommen mit einem Rucksack voller Bereicherungen, Erlebnissen und Erkenntnissen, um damit ihre Heimat zu beschenken.
Der Weg ins Unbekannte war lang, doch kaum beschwerlich. Ganz im Gegenteil! Manchmal fühlte sich das Mädchen getragen von Zauberhand. Nie im Leben zuvor fiel ihr das Atmen so leicht. Das stetige Voranschreiten begleitete sie Schritt für Schritt mehr. Und sie wusste, es gab kein Ziel auf ihrer Reise. Der Weg war das, wonach sie sich so sehr sehnte- das Auf und Ab, das Hin und Her. Dennoch, ein Teil in ihr wurde ganz traurig und nachdenklich. Jeder Schritt entfernte sie auch in ihrem Inneren mehr und mehr von ihrem Heimatdorf und ihrer Familie. Sie spürte tief in ihrem Herzen, dass ihre vermeintliche Heimat ihr ein Gefängnis war. Zuhause war sie in der großen weiten Welt der Veränderung. Sie begegnete Menschen, großen und kleinen, bewussten und unbewussten, starken und schwachen. Dabei lernte sie, sich und ihr Leben in all seinen Facetten zu lieben und ehren. Sie tanzte mit den Elementen der Erde, weinte mit den Schicksalen der Menschen. Sie nahm es an, das Geschenk des Lebens und kostete es aus, in der vollen Bandbreite. Tiefe Täler und hohe Berge durchschritt sie. Ihr Weitblick schärfte sich mehr und mehr. Sie konnte erzählen von weiten Räumen, die sie zu betreten vermag, Räume voller Erkenntnis, Inspiration und Mystik. Räume der Kraft und Heilung, Heilung ihres Herzens und ihrer Seele. Den Panzer um ihr Herz legte sie ab, um tiefer fühlen und lieben zu lernen. Jede Verwundung brachte sie tiefer an ihre eigene Essenz, an die Essenz des Menschenlebens.
In all den Jahren hatte sie nicht auf ihre Familie vergessen. Sie hatte einen wichtigen Platz in ihrem Herzen. Sie wusste, dass sie eines Tages zu ihnen zurückkehren werde mit all den Geschenken des Lebens. Mit großer Aufregung nahm sie eines Tages klar und deutlich den Inneren Ruf wahr zurückzukehren an jenen Ort, an dem sie geboren wurde, an jenen Ort des Vergessens. Am Weg ins Bergdorf stellte sie sich immer wieder vor, mit welcher Begeisterung und Dankbarkeit man sie empfangen werde. Und dann kam er der Tag und ganz anders kam es, als gedacht. Einige Bewohner des Dorfes hatten Mühe, das Mädchen von damals wiederzuerkennen in der stattlichen, strahlenden Frau. Ihre Familie öffnete ihr zwar die Türe zu ihrem Haus, im Inneren blieben sie jedoch verschlossen, Teile des Mädchens stießen sie sogar fort in ihrem Geiste. Sie agierten aus ihrer Verletzung, als ihrer Enttäuschung. So lange war das Mädchen weggewesen. Zu unbegreiflich schienen ihnen die Schilderungen des Mädchens. Ihre Erlebnisse stellten ihr Weltbild voller Resignation, Leid, Abhängigkeit und Opfer- Sein in Frage. Sie wollten es nicht hören, sie konnten es nicht sehen. Das Mädchen erzählte unaufhörlich, getragen von Begeisterung und Liebe. Ihr Enthusiasmus verwehrte ihr vorerst den Blick auf die Wahrheit. Keiner glaubte ihr und die Menschen im Dorf hassten sie für das, was sie erlebt hat. Sie passte nicht mehr zu ihnen und störte ihr gewohntes Leben. Das Mädchen dachte Frieden zu bringen, doch brachte sie Konflikt. Das Mädchen dachte Liebe zu bringen, doch schürte sie Hass. Das Mädchen dachte Freiheit zu bringen, doch sperrten sich die Menschen noch mehr ein in ihren Kokons. Als sie das verstand, weinte sie. Sie weinte viel und lange. Doch sie wollte nicht aufgeben von der Liebe zu erzählen, von der Heilung zu erzählen, von den Wundern des Lebens zu erzählen.
Mehr und mehr stieß sie auf taube Ohren und versteinerte Herzen. Das verletzte sie sehr. Dennoch verharrte sie noch eine ganze Weile im Dorf, getragen von der Hoffnung und der unbändigen Liebe der Menschheit gegenüber. Bis sie schließlich bemerkte, dass ihr eigenes Herz schwerer und schwerer wurde, ihr Inneres leerer und leerer, ihr Geist stumpfer und stumpfer. Sie vermochte sich zu erinnern an die Schönheit des Lebens. Aus Dankbarkeit und Demut ihrem eigenen Leben gegenüber, raffte sie sich auf. Mit letzter Kraft nahm sie das Geschenk ihres Lebens an und- LEBTE! Das Mädchen lebte ihren Traum, Tag für Tag, Minute für Minute, Sekunde für Sekunde.
Alles, was sie auf diesem Weg blockierte und hinderte, ließ sie los.
Aus Liebe zum Leben!
Aus Liebe zu sich selbst!
Aus Liebe zur ewigen Schönheit und Verbundenheit!
Aho Mitakuye oyasin.